Rückblick nach 30 Jahren

Islamisierung und Vermarktung

Was hat sich nicht alles verändert – eigentlich sind 30 Jahre sehr kurz im Verhältnis zu der langen Zeit, die die Kalash-Kultur schon besteht – oder soll ich besser schreiben: bestand?
Einige Ethnologen sagen, die Kalash bewohnen das heutige Chitral seit der Zeit als Alexander der Große hier durchzog (ca. 350 v.Chr.), andere stehen auf dem Standpunkt, sie seien die Ureinwohner dieses Gebietes, lebten hier schon viel länger und hätten ihre Kultur und Religion gegen alle Eindringliche bis heute verteidigt.

Schon vor 30 Jahren begann Saifullah Jan, der damalige Sprecher der Kalash, für die Rechte seines Stammes zu kämpfen. Er und seine Mitstreiter forderten vom Pakistanischen Staat die Millionen Walnussbäume und die großen Weideflächen zurück, die der Emir von Chitral den Kalash ohne Bezahlung einfach weggenommen hatte.
Auch die schleichende Islamisierung kritierten sie gegenüber der Bezirkregierung Chitral.
Der Kampf geht bis heute weiter und einige Angehörige der Kalash sind fest entschlossen, ihre Tradition und Religion nicht in der moslemischen Umwelt untergehen zu lassen.

Einer von ihnen – Taj Khan – besuchte uns 2008 in Deutschland und erzählte von seinen Aktivitäten, der Weltöffentlichkeit die bedrohte Existenz seines Volkes vor Augen zu führen. Er hatte mit Hilfe einiger ausländischer Wissenschaftler und der griechischen Regierung ein Alphabet für die Kalashsprache entwickelt.*

Eine griechische NGO unter der Leitung von Athanassios Lerounis gründete 2008 in Bumburet ein Kalash-Kultur-Zentrum, ein Krankenhaus, ein Schulkomplex mit angeschlossener Wohneinheit, in dem nur Kalasha unterrichtet werden, Muslime dürfen diese Schule nicht besuchen. Leider wurde Athanassios Lerounis 2009 von den Taliban entführt  und der pakistanische Staat entzog dem Kalash-Kultur-Zentrum jegliche finanzielle Unterstützung.

So bleibt den Kindern der Kalash nichts anderes übrig als die Schulen entlang der im Tal liegenden moslemischen Dörfer zu besuchen. In diesen werden die Kalash-Kinder nicht über ihre Religion, Rituale und Kultur unterrichtet, sondern lernen, dass es nur einen Gott gibt – und der heißt Allah. Schätzungsweise konvertieren ca. 80 Prozent der SchülerInnen noch als Minderjährige zum Islam.  Verstärkt setzen sich heute die Kalash bei der Pakistanischen Regierung für ein Gesetz ein, das die Bekehrung von Minderjährigen verbietet.          

Über ihre Religion sprechen die Kalash zu Außenstehenden so gut wie nicht (mehr). Sie haben zu viele bittere Erfahrungen gemacht, dass sich die Touristen auch an den Orten respektlos aufhalten, die den Kalash heilig sind, z.B. waschen sie sich in den heiligen Quellen, fotografieren die Götter-Altäre oder betreten die Mutterschaftshäuser (Baschali), um Selfies zu machen.

Die kleinste Minderheit Pakistans - heute gibt es nur noch ca. 3.800 Kalash – kann den fortschreitenden Veränderungen nur unter großen Schwierigkeiten standhalten.
Ihre Sitten und Gebräuche, ihre Feste und Tänze erlitten das gleiche oder ein ähnliches Schicksal wie die so vieler Minderheiten in anderen Teilen unserer Erde. Sie dienen heute den pakistanischen und ausländischen Touristen vor allem zur Zerstreuung und sind zur Einnahmequelle findiger Geschäftsleute geworden – die allerdings meist keine Kalash, sondern Pakistani sind.

Immerhin hat die UNESCO im November 2018 die traditionelle meteorologische und astronomische lokale Beobachtung der Kalash von Sonne, Mond und Sterne  als immaterielles Welterbe anerkannt.

Die Einflüsse der Moderne, die das alltägliche Leben der Kalash vereinfacht haben und sie am technischen Fortschritt teilhaben lässt, kann die Furcht – ja die Angst – vor dem völligen Untergang ihrer Kultur nicht  vertreiben.

„Wenn die Vermarktung unserer Kultur nicht gestoppt werden kann“, sagen die Kalash „werden wir unsere Kinder und Ziegen einpacken und uns auf die Suche nach einem neuen Land machen müssen.“

Gibt es denn keinen Weg, an der traditionellen Kultur, an Riten und Ritualen festzuhalten und sie nicht zwangsläufig der Vermarktung als „exotischen Tourismus“ auszuliefern?
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* Die Kalash kennen keine Schrift. Ihre Geschichte wurde bis 1993 in Erzählungen, Gedichten und Gesängen an die Nachfahren weitergegeben