Cutcho
Im Haus der Gottheit Eleggua
Cutcho ist der 'Vater' der 'Cabildo* Nilonille'.
Er kennt alle alten Riten und Rituale, er leitet die Zeremonien, aus ihm sprechen die Verstorbenen und manchmal auch die Götter selbst. Er lässt die Muscheln weissagen und kann so in die Herzen der Menschen sehen. Früher, als er noch nicht die Gicht hatte, war er ein bekannter Trommelspieler. Er schlug bei den rituellen Festen die heiligen Trommeln.
Kraft seiner Autorität als 'Vater' verschafft er sich auch heute noch mit seiner alten, rauchigen Stimme Gehör. In seinem Haus, dem Hause Elegguas, treffen sich täglich die Mitglieder der Cabildo, um zu diskutieren, zu streiten, zu plaudern und vor allem um Feste zu feiern, zu tanzen und zu trommeln.
Von früh bis spät ist die Tür für die Mitglieder geöffnet, hier suchen sie Rat und Trost für die vielschichtigen Probleme ihres Lebens.
Cutcho hat sein ganzes Leben in diesem Haus verbracht, hier wurden seine 6 Töchter geboren, hier kam sein einziger Sohn zur Welt. Hier kennt Putcho jedes Detail, kann die Geschichte jedes Gegenstandes erzählen. In seinem Haus wohnt das Leben selbst.
*Eine Cabildo war ehemals eine Gruppe von Leuten, die derselben Nation entstammten und die die gleichen Ursprünge hatten. Diese Gruppen halfen sich gegenseitig und sie dienten dazu, ihre eigenen Riten, Tänze, Gesänge zu erhalten, in gewisser Weise, ihr altes Leben wieder herzustellen, die Tradition zu bewahren. Aber sie hatten auch ein gesellschaftliches Ziel: z.B. Geld zu sammeln, damit einem Mitglied in Not geholfen werden oder ein Sklave sich freikaufen konnte.
Im Hafenviertel Matanzas.
Es ist heiß. Türen und Fenster sind geöffnet. Von der Straße kann ich - wie in Schaufenster - in die Räume blicken.
In einem entdecken ich einen treppenförmigen Altar. Auf jeder Stufe sind verschiedene Puppen aufgestellt.
Ein alter Schwarzer neben der Tür beobachtet, wie ich den Altar betrachten. Er zeigt auf die Spitze des Altars und sagt: "Das da ist Chango. Die katholische Heilige Barbara verdeckt ihn beinah, und das da ist Jesus Christus." Dabei weist er auf eine Puppe im weißen Spitzenkleid.
Ich muss unwillkürlich lachen, der Schwarze ebenfalls. Er erzählt mir:
"Früher, als wir noch Sklaven waren, war es uns verboten, unsere Yoruba-Götter anzubeten - schließlich sollten wir alle Christen werden. Aber unsere Vorfahren waren schlau: Sie stellten ein katholisches Heiligenbild an einen Platz, an dem es sofort auffiel. Wenn der weiße Sklavenaufseher nun die Trommeln und Gesänge hörte, zur Baracke kam und fragte: 'Neger, was macht ihr?', antwortete einer der Sklaven: 'Das machen wir für die Heilige Barbara!' und zeigte auf das Heiligenbild. Der Aufseher war beruhigt und sagte zu sich: 'Komisch, was die da machen - aber sie verehren ja unsere Heilige Barbara.' Aber natürlich beteten sie nicht die Heilige Barbara an, für sie war sie Chango, unser Yoruba-Gott. So geschah es mit all unseren Gottheiten: Die weißen Herrscher dachten, wir huldigen ihren katholischen Heiligen, aber in Wirklichkeit verehrten wir unsere alten, afrikanischen Göttern.
Heute sind unsere Kulte längst akzeptiert, niemand stört sich mehr an ihnen. Ja, es gibt sogar immer mehr Weiße, die unseren Religionen beitreten."
Er bemerkt meinen skeptischen Blick.
"Ja, weißt Du, warum man unsere afrikanischen Götter stärker lieben kann? Sie kann man um Rat fragen, und jedes Mal sagen sie ganz genau, was man zu tun und was man zu lassen hat. Die Christen fragen einen Priester - einen Menschen. Wie kann man aber der Antwort eines Menschen Glauben schenken?"
Die Türen von Cutchos Altarschrank sind weit geöffnet, zwei Holzkästen davor zurechtgestellt.
Jeden Tag zwischen 8.oo und 13.oo Uhr hält er 'Sprechstunden' ab, wie ein Arzt.
Ein junger Mann konsultiert ihn.
Cutcho legt sich ein Brett auf seine Knie. Auf ihm liegen 16 Kaurimuscheln, ein sog. 'Ibo'. ('Ibo' sind 4 weitere Gegenstände: eine größere Muschel (keine Kauris), ein kleiner, weißer, weicher Stein, ein großes Samenkorn und - in einem Tütchen - ein Pulver aus Eierschale und Baumrinde.)
Cutcho nimmt die 16 Muscheln in beide Hände, schüttelt sie und spricht in der Yoruba-Sprache die Worte: "Der Ratsuchende möge von Tod, Krankheit, Tragödien und allem Bösen verschont bleiben. Das Gute möge nicht für das Schlechte, das Schlechte nicht für das Gute sprechen."
Die 16 Muscheln - der 'dilogun' - sind gefallen. Cutcho notiert sich in einem Heft die Formation. Jede Formation – der 'Buchstabe' - hat ihren Namen und zieht bestimmte Deutungen nach sich. Cutcho wiederholt das Ganze. Wieder sind die Muscheln in eine zufällige Struktur gefallen, wieder notiert er sich den 'Buchstaben'.
Jede Deutung beginnt mit dem Erzählen einer moralisierenden Legende. Hier ein Beispiel:
"Der König vom Lande Oyo war gestorben und Unle sollte neuer König werden.
Wir feiern ein großes Fest, weil ich König werde,’ sagte Unle zu dem Volk und kaufte einen Ziegenbock. Er schnitt dem Bock den Kopf ab und warf ihn in das Meer. Danach begannen das Fest.
Olofi - der höchste Gott, der alles sieht und dem nichts entgeht - wurde auf das Fest aufmerksam durch den Lärm, und er stieg herab und fragte: "Was macht ihr?"
"Wir feiern unseren neuen König, Unle," antworteten sie.
Olofi will das Tier sehen, das sie geopfert haben, um das Fest zu feiern. Sie zeigen ihm jedes Teil des Ziegenbockes: "Hier sind seine beiden Füße, hier die Hörner." "Gut" sagt Olofi. "Hier sind die Rippen, hier der Magen, hier die Leber und hier sein Herz."
"Gut“ sagt Olofi. "Und das hier ist sein Fell."
"Gut“ sagt Olofi "aber wo ist sein Kopf?"
"Den haben wir weggeworfen", geben sie zur Antwort.
Daraufhin fragt Olofi: "Habt ihr jemals einen Körper laufen sehen ohne Kopf?"
Der Kopf im Meer brüllt: "Illa moille boni oni cua cua." Und Olofi übersetzt: "Es ist der Kopf, der den Körper trägt."